Ein letzter Funke

Eine Vampir-Adventsgeschichte

Atemlos suche ich mir einen Weg zwischen weißbepackten Bäumen und eisigknirschenden Schneewehen, weg, nur weg von diesem Dorf. Den ganzen Abend habe ich versucht, eine weihnachtliche Freude, wenigstens einen winzigkleinen Funken nostalgischer Wärme in mir aufkommen zu lassen. Nichts. Mein Herz ist so kalt, wie es meine Füße wären, wenn ich nicht längst alle Fähigkeit zu empfinden eingebüßt hätte. Nicht einmal die Erinnerung an früher, an all die Weihnachtsfeste mit meiner Familie, hilft da noch. Wenn ich daran denke, wie wir zu siebt, eng zusammengedrängt, um den Kachelofen sitzen und Esskastanien rösten, kommt mir nur noch der Wunsch, zu schreien. Die Weihnachtslieder meiner Mutter klingen als leere Tonhülsen in meinem Kopf nach.

Sie war eine sehr fromme Frau, meine Mutter. Vielleicht ist es das, was mich an ihr immer so gestört hat, selbst, als ich sie noch abgöttisch liebte – diese absolute Sicherheit, es gäbe irgendwo „da oben“ jemanden, der gütig auf uns herabschaut. Für mich gab es diese Sicherheit nie, und so geborgen ich mich im Kreis meiner Familie fühlen konnte, so eng wurde mir dieses Umfeld ab einem gewissen Alter – und je älter ich wurde, desto beengter kam es mir vor in unserem Heim. Das, genau dieses Gefühl des Eingesperrtseins, und vielleicht ein klein wenig auch der Gedanke daran, wie sehr ich meine selbstsichere Mutter damit erschüttern würde, haben mich letztendlich dazu getrieben, zu tun, was ich getan habe – als einzige unter all den neugierigen Mädchen im Dorf den Mut aufzubringen und mich der geheimnisvollen Fremden zu nähern, die ihr Haus stets nur nach Einbruch der Dunkelheit verließ und kaum mit jemandem zu sprechen schien. Die Gerüchteküche hatte es schon längst verkündet, und vielleicht war es das erste und einzige Mal, dass dieses Konglomerat der Munkeleien Recht behalten sollte – es hatte etwas Seltsames auf sich mit dieser Frau. Seltsam, aber keinesfalls so spektakulär und mysteriös, wie ich es mir vorgestellt hätte, bevor sie an jenem dreiundzwanzigsten Dezember ihre Lippen über meiner ängstlich pulsierenden Halsschlagader schloss und mich mit einem simplen Stich und ein paar Schlucken für immer von Angst und Tod befreite.

Ich lasse mich neben einem Weiher zu Boden sinken, dessen spiegelglatte Oberfläche mich nicht einmal als verschwommenes Bild zurückwirft, und lege meine Hände in den Schnee, in der Hoffnung, sie könnten wenigstens ein paar Kristalle zum Schmelzen bringen. Leise knisternd sinkt das weiße Kissen in sich zusammen, ohne sich das kleinste Bisschen zu erwärmen.

Seitdem habe ich viel erlebt, habe auf großen Bällen getanzt, mit Künstlern und Philosophen gesprochen und alle Sehenswürdigkeiten dieser Welt im Licht des Mondes betrachtet. Ich habe all das getan, was ich mir erhofft hatte, aber was ich auch versuche, am vierundzwanzigsten jedes letzten Monats im Jahr holt mich unerbittlich die Erinnerung ein an die letzten Worte, die meine Mutter je zu mir gesagt hat: Du magst mich verraten haben und alles, was ich dir beigebracht habe, aber du bist meine Tochter, und ich liebe dich. Ich weiss, dass du deine menschliche Natur noch nicht völlig abgestreift hast, nicht, solange dir dieser Tag noch etwas bedeutet. Dieser Tag, das sind kalte Winde, warme Getränke, klingende Seligkeit und glänzende Augen. Heute, zum ersten Mal seit über zweihundert Jahren, hat nicht ein einziger Moment davon mein Herz berührt. Der Funken Menschlichkeit, der mir noch geblieben ist, ist erloschen, und damit jedes Gefühl, das mich noch an dieses Leben und diese Welt gebunden hielt. Lautlos rolle ich mich im Schnee zusammen und schliesse die Augen, während ich im dämmernden Morgenlicht langsam aufhöre, zu sein.

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Autorin / Autor: pfefferminztea - Stand: 10. Dezember 2008