Rassistischer Angriff auf Schüler:innen kein Einzelfall

Laut Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt haben Angriffe im Jahr 2022 drastisch zugenommen

Der unsägliche Vorfall, bei dem eine Berliner Schulklasse kürzlich in einem Ferienlager in Brandenburg von einer anderen Jugendgruppe rassistisch beleidigt und so massiv bedroht wurde, dass sie das Ferienlager noch in der Nacht verlassen mussten, ist bei weitem kein Einzelfall. Wie die Opferberatungsstellen im VBRG (Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V.) in ihrer am 9. Mai veröffentlichten Bilanz zum Jahr 2022 veröffentlichte, werden täglich mindestens fünf Menschen Opfer rechter, rassistisch oder antisemitisch motivierter Gewalt.

Die im VBRG e.V. zusammengeschlossenen Beratungsstellen haben für das Jahr 2022 einen Anstieg rechter Gewalttaten in den ostdeutschen Bundesländern, in Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein dokumentiert. Trotz Ausgangsbeschränkungen aufgrund der Pandemie bis zum Frühjahr 2022 wurden 2.093 rechts, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe mit 2.871 Betroffenen registriert. Dabei habe sich die Anzahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen im Vergleich zum Vorjahr auf 520 Angegriffene nahezu verdoppelt. Besorgniserregend sei sowohl der Anstieg von mehr als 15 Prozent bei rechten Gewalttaten – insbesondere Körperverletzungsdelikten – als auch eine Verdreifachung der Nötigungen und Bedrohungen insbesondere aus rassistischen und antisemitischen Motiven, so die Bilanz.

Rassismus war auch 2022 – wie schon in den Vorjahren – das häufigste Tatmotiv. Mehr als die Hälfte aller Angriffe (1088 Fälle) waren rassistisch motiviert und richteten sich überwiegend gegen Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrungen und Schwarze Deutsche. Laut VBRG verschwiegen Ermittlungsbehörden dabei aber immer wieder, dass das Tatmotiv Rassismus war, etwa bei einer schweren Brandstiftung im Keller eines Mehrfamilienhauses in der Nacht vom 9./10. Oktober 2022 in Berlin-Lichtenberg. Rassismus als Tatmotiv wurde erst Wochen später durch Nennung des Brandanschlags in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zu Angriffen gegen Geflüchtete (Drs. 20/5773) und durch Kontaktaufnahme der Bewohner:innen des Hauses mit der Berliner Opferberatungsstelle ReachOut bekannt.

Großer Anstieg antisemitischer Angriffe und Verdoppelung von trans- und queerfeindlicher Gewalt

Besonders Besorgnis erregend sei, dass die Anzahl antisemitisch motivierter Angriffe im Vergleich zum Vorjahr um das Vierfache gestiegen ist. Auf Bedrohungen folgten dann oft innerhalb sehr kurzer Zeit schwere Gewalttaten, wie etwa in Brachwitz (Saalekreis/Sachsen-Anhalt), wo ein 52-Jähriger im Sommer 2022 über Wochen von seinem Nachbarn massiv antisemitisch bedroht wurde und kurz darauf Brandanschläge auf das Auto und ein Nebengebäude des Wohnhauses des Angegriffenen folgte.

Auch die Anzahl der von den Opferberatungsstellen registrierten trans- und queerfeindlichen Angriffe hat sich im Vergleich zum Vorjahr auf 174 verdoppelt und forderte sogar ein Todesopfer. Malte C. starb am 02. September 2022, als er bei einem queerfeindlich motivierten Angriff beim CSD-Münster intervenierte und dabei tödliche Verletzungen erlitt. Ebenfalls im Vergleich zu den Vorjahren angestiegen ist die Anzahl von Angriffen gegen sogenannte politische Gegner:innen, darunter 84 Journalist:innen, die von Anhänger:innen der Coronaleugner- und anderer Verschwörungsideologien als „Lügenpresse“ diffamiert, bedroht und angegriffen wurden.

Opfern wird Mitschuld gegeben

Allzu oft werde Opfern rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt selbst die Schuld oder eine Mitverantwortung an einem Angriff zugeschrieben, stellt Dr. Doris Liebscher, Juristin und Leiterin der Ombudsstelle zum Berliner Antidiskriminierungsgesetz fest. „Hinzukommt, dass insbesondere rassistische Motive von Ermittlungsbehörden und auch von Gerichten nicht als solche erkannt oder nicht berücksichtigt werden.“ Während in Berlin und in anderen Bundesländern inzwischen bei Polizei und Staatsanwaltschaften Beauftragte für Antisemitismus und in Berlin auch für Hasskriminalität gegen LSBTI zu Sensibilisierung in den Behörden beigetragen haben und Fortschritte bei der Strafverfolgung und Erkennung verzeichnet werden konnten, „besteht beim Thema Rassismus eine große Lücke“, betont Dr. Doris Liebscher. „Es fehlen flächendeckend Rassismus-Beauftragte bei Polizei und Justiz.“

Die Täter-Opfer-Umkehr und die mangelnde Rassismuskompetenz bei Polizist:innen und Justiz führe bei vielen Opfern dazu, dass ihr Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat fundamental erschüttert werde, so die Juristin. Dies zeige auch der rassistische Angriff auf die Schülerin Dilan S. im Februar 2022 in Berlin. Die junge Frau hatte in einer Berliner Straßenbahn Zivilcourage gezeigt und eine Gruppe Erwachsener aus dem rechten Hooliganspektrum aufgefordert eine Maske zu tragen. Daraufhin wurde die damals 17-Jährige rassistisch und misogyn beleidigt, angegriffen und verletzt. Die rassistische Täter-Opfer-Umkehr der Angreifer wurde in der ersten Polizei-Pressemitteilungen übernommen; die Schülerin als Maskenverweigerin dargestellt, die den Angriff selbst zu verantworten hätte. Erst ihre auf Instagram veröffentlichte Richtigstellung aus dem Krankenhaus habe dazu geführt, dass gegen die Täter:innen ermittelt wurde. Auf eine Entschuldigung der Polizei würde Dilan S. bis heute vergebens warten.

„Rassistisch motivierte Angriffe gegen Kinder und Jugendliche haben sich innerhalb von einem Jahr verdoppelt und beeinflussen den Alltag der betroffenen Familien massiv“, bestätigt auch Sultana Sediqi von „Jugendliche ohne Grenzen“ aus Thüringen. „Allzu oft fühlen sich die Familien von den Institutionen des Rechtsstaats im Stich gelassen.“ Insbesondere rassistische Bedrohungen, Diskriminierungen und Gewalt im Wohnumfeld und an Schulen führten zu massiven Einschränkungen und Belastungen im Alltag der betroffenen Familien. „Die von den Opferberatungsstellen registrierten Angriffe stellen nur die Spitze des Eisberges dar“, betont Sultana Sediqi. „Hinzu kommen rassistische Diskriminierungen durch Behörden, auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt – das führt zu einer ständig präsenten Angst und Ohnmacht.“

Leider nicht besonders wachsam

So hoch die hier erfassten Zahlen auch schon sein mögen, leider gehen die Opferberatungsstellen von einer hohen Anzahl nicht registrierter rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalttaten sowie von einer eklatanten Untererfassung solcher Tatmotivationen durch Polizei und Justiz aus. "Die nach wie vor mangel- und lückenhafte Erfassung und Anerkennung von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus als Tatmotive durch Polizei und Justiz verschleiert das Ausmaß der Bedrohung und Dimensionen rechter Gewalt und lässt die Betroffenen im Stich“, resümiert Robert Kusche.

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Autorin / Autor: Redaktion/ Pressemitteilung - Stand: 10. Mai 2023