Bin ich ein Sensibelchen?

„Sei doch nicht so empfindlich!“ oder „Stell dich nicht so an!“ sind Sätze, die viele von uns bestimmt schon mal gehört haben. Jetzt stellt sich die Frage, ob wir uns manchmal einfach etwas zu schnell angegriffen fühlen oder ob es nicht auch einen wissenschaftlichen Ansatz dafür gibt: die Hochsensibilität.

Bild: Pixabay HeungSoon

„Sei doch nicht so empfindlich!“ oder „Stell dich nicht so an!“ sind Sätze, die viele von uns bestimmt schon mal gehört haben. Jetzt stellt sich die Frage, ob wir uns manchmal einfach etwas zu schnell angegriffen fühlen oder ob es nicht auch einen wissenschaftlichen Ansatz dafür gibt: die Hochsensibilität.

Es scheint Menschen zu geben, die sensibler sind als andere. So weit, so gut. Doch der Ansatz der Hochsensibilität geht darüber weit hinaus.

Wo kommt der Begriff eigentlich her?

Der Begriff und die Forschung wurde von der US-amerikanischen Psychologin Elaine Nancy Aron ab 1996 geprägt, die heute als Pionierin auf dem Gebiet der Hochsensibilität gilt. Wissenschaftlich ausgedrückt beschreibt der Begriff eine Charaktereigenschaft bei Menschen, die stark empfänglich für subtile Reize sind, aber auch eine leichte Übererregbarkeit haben, sich also schnell überfordert fühlen. Wichtig ist, dass es sich nicht um ein Krankheitsbild handelt, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal bei Menschen darstellt.

Aufgrund ihrer Forschung entwickelte Aron einen Test mit 27 Fragen, die Menschen zeigen sollen, ob sie zu den Hochsensiblen gehören oder nicht. Wenn man 14 der Fragen für sich selbst bejaht, ist es wahrscheinlich, dass man die Eigenschaft besitzt. Viele hochsensible Menschen bejahen allerdings deutlich mehr Aussagen als die geforderten 14. Auch in Deutschland gibt es viele Seiten, auf denen man solche Tests machen kann. Dabei kann es zu Abweichungen bei den Fragen kommen. Unten findet ihr einen Link zu einem Test, so wie Aron sie entwickelt hat. 

Der Test wird oft in Praxen von Psychologen und Psychologinnen angewandt. Er kann dazu beitragen, eine Hochsensibilität zu erkennen. Dies stellt aber keine Diagnose dar, die es so auch nicht gibt.

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Was ist Hochsensibilität eigentlich genau?

Doch was bedeutet es jetzt eigentlich, wenn man als hochsensibel eingestuft wird? Es gibt verschiedene Merkmale, die hochsensible Menschen kennzeichnen. Die AOK schreibt dazu auf ihrer Seite, dass solche Menschen zum Beispiel sehr empfindlich gegenüber Sinnesreizen sind. Gerüche, Lichteindrücke, Geräusche oder Empfindungen auf der Haut wie ein kratziger Pulli werden viel intensiver wahrgenommen. Außerdem werden Reize oft intensiver verarbeitet. Das bedeutet, dass Menschen noch lange über Gespräche, Kritik oder Erfahrenes nachdenken. Sie neigen zum Grübeln. Außerdem nehmen sie sich vieles schneller und mehr zu Herzen. Hochsensible Menschen besitzen viel Einfühlungsvermögen und viel Vorstellungskraft. Es sind oft sehr kreative Menschen. Manche lassen sich auch durch Kunst, Musik, Ästhetik, Natur oder Filme stärker beeinflussen. Sie nehmen diese dann anders und stärker wahr. Viele Hochsensible ziehen sich häufig phasenweise zurück, um einer sogenannten Überreizung entgegenzuwirken.

Gibt es auch Kritik?

Noch herrscht aber kein allgemeiner Konsens in der Wissenschaft. Die Wissenschaftler:innen sind sich noch nicht darüber einig, ob es sich tatsächlich um eine grundlegende Eigenschaft handelt oder nur eine freundliche Umschreibung für ein "Sensibelchen". Die Seite Spektrum.de schreibt, dass erste neurowissenschaftliche Studien durchgeführt wurden, bei denen unterschiedliche Muster der Hirnaktivität bei Normal- und Hochsensiblen festgestellt worden sind. Die Ergebnisse sind allerdings umstritten. Die Datenlage sei noch zu dünn und die Praxis schon deutlich weiter als die Forschung. Die meisten Erkenntnisse basieren auf Erfahrungswerten von Menschen, die sich selbst als hochsensibel einstufen. Wissenschaftler:innen, die dem Phänomen kritisch gegenüberstehen, sagen, dass die angesprochenen Merkmale in der Persönlichkeitsforschung zur Eigenschaft Neurotizismus gehören. Andere wiederum sagen, dass das eine Reduzierung ist, die dem Phänomen nicht gerecht wird. Allerdings scheint das Phänomen, dass manche Individuen Reize und Empfindungen anders und vor allem stärker wahrnehmen, auch in der Tierwelt beobachtet worden zu sein. Es könnte sein, dass diese Unterschiede für das Überleben von Populationen verantwortlich sind, da so jedes Tier zum Überleben auf seine Art beitragen kann.

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Meine eigenen Erfahrungen

Auch ich werde nach dem wissenschaftlichen Ansatz als hochsensibel eingestuft. Ich war schon als kleines Kind sehr geräuschempfindlich. Glücklicherweise hat meine Mutter das immer sehr ernst genommen. Vor ein paar Jahren fing ich zusätzlich an, plötzlich schlechter zu hören. Sowohl mit dem auditiven Wahrnehmen als auch dem normalen Hören hatte ich Probleme. Dieses gegensätzliche Problem schilderte ich meinem Ohrenarzt, der aber keine gesundheitliche Beeinträchtigung feststellen konnte. Auf der einen Seite war ich erleichtert, auf der anderen Seite blieb mein Problem bestehen. Eine weitere Ohrenärztin zeigte mir dann die Lösung. Sie mutmaßte, dass mein Gehirn bei viel Chaos oder lauten und vielen Geräuschen überfordert ist. Es fängt an, Geräusche nicht mehr in mein Gehirn zu lassen. Dabei kann es aber nicht zwischen relevanten und nicht relevanten Geräuschen unterscheiden, sodass ich anfange, schlechter zu hören und trotzdem noch empfindlich bin. Die Lösung sind bei mir Ohrstöpsel, die die hohen und tiefen Frequenzen rausfiltern. So kann ich mich auf Gespräche und relevante Geräusche konzentrieren. Ab dem Zeitpunkt habe ich mich viel mit dem Thema beschäftigt und viele Eigenschaften an mir gefunden, die ebenfalls zur Hochsensibilität gezählt werden.

Darunter zählt bei mir zum Beispiel auch, dass ich sehr altruistisch veranlagt bin und ein hohes Einfühlungsvermögen habe. Meistens möchte ich dafür sorgen, dass es allen um mich herum gut geht. Dabei vergesse ich mich oft selbst und was ich gerade brauche. Interessant ist bei mir auch, dass ich Stimmungen in einem Raum sehr schnell wahrnehmen kann. Ärgerlich dabei ist, dass ich mich von der Stimmung anderer sehr leicht beeinflussen lasse, ohne was dagegen machen zu können. Wenn mein Freund beispielsweise schlecht drauf ist, bin ich es meistens in Sekundenschnelle ebenfalls. Auch das zu Herzen nehmen und Nachgrübeln über Kritik oder intensive Diskussionen kann man bei mir auf jeden Fall beobachten.

Ein weiteres Merkmal von hochsensiblen Menschen ist das bewusste Wahrnehmen von Kunst und Natur. Es gibt Menschen, die bei Spaziergängen ständig stehen bleiben, von allem abgelenkt sind und versuchen, die Natur bewusst zu erleben. Andere können stundenlang ergriffen vor einem Kunstwerk stehen. In meinem Fall ist es die Musik. Ich lasse mich oft von bestimmten Liedern oder Menschen, die sie singen überwältigen, sodass ich Tränen in den Augen habe.

Und trotzdem handelt es sich hierbei um eine Charaktereigenschaft. Es kann helfen, sich selbst etwas besser zu verstehen, sich kennenzulernen und für sich selbst Strategien zu entwickeln, mit seinen Merkmalen umzugehen. Dabei ist es ganz egal, ob es sich um Hochsensibilität oder Neurotizismus handelt.

Quellen:

Was denkst du darüber?

Autorin / Autor: Annalena Liesner - Stand: 8. Dezember 2023