KIZUM

Von Katharina Jurka, 18 Jahre

Also an deiner Stelle würde ich mir ja ganz genau überlegen, ob ich das wirklich essen will.
Auf halber Strecke erstarrt meine Hand auf dem Weg zu meinem Mund. Mein Blick huscht zu dem Schokoriegel, dann wieder nach vorne auf die Straße, die ich gerade entlanglaufe.
Schokoriegel, Straße.
Straße, Schokoriegel.
Denk doch nur an das Kleid, das du letzte Woche erst gekauft hast. Wenn du so weiter machst, wirst du nicht mehr reinpassen, Izzy.
Der tadelnde und gönnerhafte Tonfall von ENIA hallt in meinen Ohren nach und da ich mit meinen Nerven sowieso schon den ganzen Tag am Ende bin, spüre ich sofort, wie Wut in mir aufsteigt. Heiß, brodelnd, alles verschlingend.
Klar, ENIA kann sich diesen Kommentar leisten. An ihrer Stelle würde ich vermutlich den gleichen Schwachsinn von mir geben. Als künstliche Intelligenz hat sie immerhin keine Ahnung von menschlichen Empfindungen. Müdigkeit und Schmerzen sind nur Wörter für sie.
Und Hunger erst. Meine Güte, hätte ENIA auch nur einmal in ihrem Leben Hunger gespürt, würde sie mir diesen einzigen Schokoriegel nicht übelnehmen. Verdammt, es ist nur ein einziger Schokoriegel. Nicht fünf, nein. Einer.
Aber sie ist kein Mensch, sondern nur ein Computerchip in meinem Gehirn, darauf aus, mein Leben zur Hölle zu machen.
Pardon- Mich dabei zu unterstützen, mein wahres Potenzial und die Möglichkeiten in meinem Leben voll auszuschöpfen.
Das verklickern sie einem zumindest im KIZUM-Center, dem Ansprechpartner für künstliche Intelligenz zur Unterstützung des Menschen.
Zuerst habe ich das für eine tolle Idee gehalten- wie der Rest der Menschheit auch, wohlgemerkt. Ich habe ihnen geglaubt und zwar so lange, bis ich ENIA erhalten habe und das kalte Erwachen kam. Denn es bedeutet, dass sie immer, überall und zu jeder Tageszeit Ratschläge erteilt.
Ohne Ausnahme.
Ganz gleich, ob ich sie um ihre Meinung gebeten habe, oder nicht. ENIA hat immer etwas zu sagen.
Schokoriegel, die eigentlich dazu bestimmt sind, meinen knurrenden Magen zum Schweigen zu bringen, selbstverständlich miteingeschlossen.
Mitspracherecht habe ich nur selten. Gar nicht, eigentlich. Dabei sollte man doch meinen, dass ich immer am meisten Mitspracherecht habe, wenn es um mein Leben geht.
„Klappe“, knurre ich schlecht gelaunt, gebe mir einen Ruck und beiße in den Schokoriegel. Dabei ist mir der Appetit vergangen. So richtig. Ich muss ihn nur ansehen und mir wird schlecht. Ich weiß doch, dass mir ein paar Kilos weniger gut tun würden…
Es ist einer der Momente, in denen ich mich frage, wie meine ganze Familie von ihren KIZUM-Assistenten begeistert sein kann. Wie sie eine Stimme, die die ganze Zeit an einen rumnörgelt, wirklich gut finden können. Vielleicht kommen sie auch besser damit klar als ich.
Vielleicht habe ich auch nur eine besonders bösartige Version in meinen Kopf eingepflanzt bekommen. Wer weiß das schon?
Eben, niemand.
Dir ist klar, dass ich deine Gedankengänge verfolgen kann?, mischt sich ENIA ein. Wenn sie ein Gesicht hätte, dann würde sie jetzt die Augen zusammenkneifen, da bin ich mir absolut sicher.
„Weiß ich“, erwidere ich knapp. „Ist mir egal.“
Ist es mir nicht. Es ist fast, als kann ich ihre Anwesenheit in meinen Kopf spüren, dabei ist das eigentlich nicht möglich. Es macht mich verrückt.
Verrückt, verrückt, verrückt. 
Ich bleibe abrupt stehen, schlucke den letzten Rest Schokoriegel hinunter und knülle das Papier in meiner Hand. Ich bereue es inzwischen, diesen Schokoriegel gegessen zu haben. ENIA hat doch Recht. Ich habe wirklich keine perfekte Figur, ich sollte mehr auf mich achten.
Solltest du wirklich. Irgendwann wirst du keine normale Kleidung mehr bekommen.
Ich keuche auf. Ich will nicht, dass dieser Kommentar wehtut, doch er tut es trotzdem, dagegen kann ich gar nichts machen. Und dann steigt Wut in mir auf, weil ich mich von ENIA so beeinflussen lasse. Sie schwillt in mir zu einem heißen Knoten an und ich habe das Gefühl, jede Sekunde zu explodieren.
Stell dir doch einmal vor, was…
„Du solltest jetzt besser den Mund halten“, fahre ich ihr dazwischen und gebe mir Mühe, gefährlich zu klingen. Dabei fühle ich mich… wie Dreck. Zu dick, nicht perfekt genug. Nicht gut genug. 
Für nichts.
Ach ja? Und was, wenn nicht? Drohst du mir dann wieder, mich im KIZUM-Center austauschen zu lassen? Ach bitte, Izzy, das tust du doch sowieso nicht, entgegnet ENIA selbstgefällig.
Irgendwie hat sie damit Recht. Wie oft habe ich schon gedroht, sie aus meinem Gehirn entfernen zu lassen? Zu oft. So oft, dass es inzwischen eine leere Drohung ist, das wissen wir beide.
Noch etwas, wo ich versage.
Ich stoße ein tiefes, deprimiertes Seufzen aus, weil mir klar ist, dass ich sie am Ende des Tages sowieso nicht loswerde. Dazu fehlt mir der Mut. Zu viele Fragen, die auf mich warten.
KIZUM-Assistenten sind perfekt. Menschen sind es nicht. Und am Ende werden sie mir die Schuld daran geben, dass es nicht funktioniert hat. Bei allen anderen klappt es doch auch.
Nein, ENIA austauschen lassen, ist keine Option.
Ich lasse meinen Blick umherschweifen und beobachte all die anderen Menschen, die sich in der Innenstadt herumtreiben. Kein einziger von ihnen sieht schlecht gelaunt aus, nicht im Geringsten. Ganz im Gegensatz zu mir.
Während ich weiterlaufe, beobachte ich, wie sie alle mit ihren KIZUM-Assistenten sprechen. Das erkenne ich an der Art, wie sie reden, wenn sie alleine sind und kein Smartphone in der Hand halten.
Warum sind sie alle zufrieden und ich muss mich mit ENIA herumschlagen?
Ich hätte bei dem Fitness-Armband bleiben und mich nicht für den Eingriff entscheiden sollen. Egal, was sie gesagt haben. Es ist egal, dass man mit KIZUM-Assistenten bessere Jobs bekommt. Egal, dass man angesehener ist.
Egal, egal, egal.
Auch jetzt ist mir klar, dass es sehr wohl eine Rolle spielt. Mein ganzes Leben lang versuche ich schon, gut genug zu sein. Und KIZUM ist meine Chance, gut genug zu werden.
Das haben sie alle vor dem Eingriff gesagt. Sie haben es mir eingetrichtert und… ich habe es ihnen geglaubt.
Wie dumm ich doch gewesen bin!
Kopfschüttelnd, um die dunklen Gedanken zu vertreiben, setze ich meinen Weg fort. Bald bin ich Zuhause und wenn ich erst einmal die Musik laut aufdrehe, übertönt das vielleicht ENIAs Stimme. Dann verschwindet sie im Lärm und mit ihr auch der Druck.
Hoffentlich.
Du solltest dich endlich mal in einem Fitness-Studio anmelden. Das sage ich dir schon seit Wochen!, beschwert sich ENIA in meinem Kopf, als ich an einem Sportzentrum vorbeilaufe. 
Ich presse meine Zähne so fest zusammen, dass sie jeden Moment unter dem Druck zersplittern müssen.
„Könntest du bitte den Mund halten?“, verlange ich.
Ich hasse Fitness-Studios. Zu viele Blicke. Zu viele perfekte Menschen, mit denen ich nicht mithalten kann.
Jetzt stell dich nicht so an!, meint ENIA.
Ich soll mich nicht so anstellen?
Fitness-Studios sind nicht halb so schlimm, wie du denkst. Das würdest du wissen, wärst du ein bisschen öfter dort.
„Bist du schon jemals in einem gewesen?“, knurre ich. Es ist eine dämliche Frage. Natürlich ist sie noch nie in einem Fitness-Studio gewesen. Sie ist ein verdammter Computerchip. Ich balle meine Hände zu Fäusten und spüre, wie sich die Fingernägel in die Handflächen bohren.
ENIA lacht. Es hört sich gehässig an.
Irgendetwas sagt mir, dass sie das Gegenteil von dem ist, was KIZUM eigentlich sein soll. Anstatt mir zu helfen, bestätigt sie jeden Zweifel, der ohnehin in mir schlummert. All das, was ich beseitigen wollte, weckt sie auf.
Sie sagt mir immer und immer wieder, dass ich selbst an allem schuld bin, was in meinem Leben nicht funktioniert.
Ohne sie würde es mir besser gehen.
Ja. Ganz sicher. 
„Ich hasse dich“, sage ich und ernte den schockierten Blick eines Passanten, der gerade vorbeiläuft. Ich sehe ihn böse an. Soll er doch denken, was er will. Ich habe größere Probleme.
Pfff.
„Was?!“, blaffe ich ENIA an. „Was willst du sagen? Los, raus damit!
Nichts.
Oh, jetzt ist diese diabolische digitale Hexe auf einmal still? Kann sie das nicht viel öfter sein? Wenn ich Yoga machen will, zum Beispiel? 
So wütend ich in der einen Sekunde noch gewesen bin, so erschöpft bin ich auf einmal in der anderen. Ich bin so, so müde. Ich will das nicht mehr.
Aber was kann ich schon tun, wenn die ganze Welt nach Perfektion strebt? Welche Möglichkeiten habe ich schon, um dazuzugehören? Nicht viele.
Nur KIZUM.
Wenn ich das auch noch verliere, bin ich auch in dieser Hinsicht eine Ausgestoßene.
Es ist alles, was mir noch bleibt.
Meine letzte Chance.
Aber…
Künstliche Intelligenz zur Unterstützung des Menschen.
Hah! Dass ich nicht lache.
ENIA unterstützt mich nicht, sie tritt zu, wenn ich ohnehin schon am Boden liege. Worte können manchmal mehr wehtun, als jeder physische Schmerz.
Früher ist es immer meine eigene, innere Stimme gewesen, die das alles gesagt hat, oder die Leute in der Schule. Jetzt ist es eine künstliche Intelligenz in meinem Gehirn. Es hat sich nichts geändert, ganz gleich, wie sehr ich mich bemühe.
Ich drehe mich im Kreis.
Gott, ich muss das jetzt endlich einmal in den Griff bekommen.
Ich brauche eine Auszeit. Ruhe und ein gutes Buch, das mich von den gemeinen Stimmen in meinem Kopf ablenkt. Einfach eine Pause, die mir hilft, nachzudenken. Ich brauche Lösungen und nichts anderes.
Nach ein paar Sekunden, in denen ich darüber brüte, fällt mir auf, dass ich bereits vor dem Gebäude stehe, in dem sich meine kleine Wohnung befindet.
Mir ist nicht mehr nach lauter Musik, aber ich fürchte mich vor der Stille, weil dann meine Gedanken viel zu laut sind.
Meine Hand zittert, als ich die Schlüsselkarte hervorhole, sie vor den Scanner halte und die Tür mit einem leisen, elektronischen Surren aufspringt.
Der Flur, der dahinter liegt, ist sauber. Die Luft genau angenehm, da die Klimaanlage von einer künstlichen Intelligenz gesteuert wird. Bewegungsmelder lassen die Lichter anspringen und in dem Moment, in dem ich den ersten Treppenabsatz erklommen habe, hält der Aufzug.
Ich bin umgeben von Technologie, die mein Leben perfekt machen soll, aber inmitten alledem fühle ich mich umso schlechter.
Alles um mich herum glänzt, nur ich selbst sehe wie das angelaufene Silberbesteck in dem alten Besteckkasten meiner Großmutter aus.
Meine Augen bleiben kurz an dem Aufzug hängen, dann drehe ich mich weg und laufe die Treppen in den fünften Stock. Überall springen die Lichter an und es ist so leise, dass die Geräusche meiner Schritte unnatürlich laut im Treppenhaus widerhallen.
Mit meiner Schlüsselkarte bewaffnet trete ich zwei Minuten später in meine Wohnung.
Alles blitzeblank. Perfekte Temperatur. Die Jalousien sind halb heruntergelassen, bei der Hitze da draußen ein Muss.
Ich höre Rollen auf dem hellen Parkett, aus dem Durchgang zu meinem Schlafzimmer kommt Bob, der kleine Staubsaugerroboter. Ich habe ein Gesicht auf das flache Gehäuse gemalt und das bringt mich hin und wieder zum Lächeln. Heute ist es zu viel.
Ich bückte mich und schalte Bob ab.
Genauso, wie die Klimaanlage kurz darauf.
Und die Musik, die leise im Hintergrund spielt.
Langsam ebbt das stete Hintergrundbrummen der Elektrizität in meiner Wohnung ab.
Fehlt noch eine Sache. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich kann ENIA nicht loswerden, aber…
„Gibst du mir eine Auszeit?“
Die Frage kommt aus meinem Mund, ehe ich es mir verkneifen kann. Ich richte es direkt an meine KIZUM-Assistentin und zum ersten Mal bitte ich sie ehrlich darum.
Wirst du die Zeit denn nutzen?
Keine schnippische Bemerkung. Kein Lachen. Kein Schnauben.
Nur diese Frage.
„Ich hoffe es“, gebe ich zurück.
Ist ihr das genug?
Ist mir das genug?
Ich muss etwas ändern. Das ist mir klar. Das hätte mir schon viel früher klar sein sollen.
Ich habe mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass ENIA zuerst still ist. Dass sie nach einer kleinen Ewigkeit fragt: Wie lange?
Als verstünde sie wirklich, wie sehr ich das brauche.
„Bis ich bereit bin.“
Wofür?
Das weiß ich selbst nicht so genau. „Bis ich herausgefunden habe, wofür ich bereit sein möchte“, erwidere ich wahrheitsgetreu.
Noch nie habe ich mich in den letzten Monaten seit dem Eingriff gefragt, ob ich wirklich eine Person in meinem Kopf habe, die einem Menschen gleicht. Die so denkt, wie ich es tue, die womöglich sogar Emotionen empfinden kann.
Vielleicht haben wir uns beide verrannt.
Ich mich in dem Drang, perfekt zu sein und ENIA in dem Drang, mich perfekt zu machen.
Und vielleicht gibt es die Chance, dass aus diesem Wahnsinn doch noch etwas Gutes werden kann.
Aber ich brauche diese Auszeit. Unbedingt.
In Ordnung. Ich gebe dir Zeit, teilt sie mir mit.
Und dann ist sie still.
Sehr, sehr still.
Die Stille, vor der ich mich fürchte.
Eigentlich.
Heute nicht.
Hier ist nichts, vor dem ich mich fürchten muss.
Nur das, was ich brauche.
Oder?
Stille. Die Freiheit, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Ohne, dass mich jemand beeinflusst.
Was will ich?
Ruhe!
Das kommt mir sofort in den Sinn. Der größte Wunsch, das tiefste Verlangen. Und ich will, dass die Zweifel verschwinden. Dass die Stimmen, die mir schon mein ganzes Leben lang meine Schwächen zuflüstern, endlich verstummen. Dass sie weg sind.
Ich will, dass die Leere endlich weg ist.
Ich will das alles nicht mehr fühlen.
Mein Blick wandert weiter. Zu meinen Handgelenken. Als würde er dort wie magisch angezogen werden, verweilt er an den Innenseiten. An der zarten, hellen Haut. Ich muss an das ganze Blut denken, das unter der Oberfläche fließt und daran, wie zerbrechlich das Leben ist.
Wie schnell man an wahre Ruhe kommen kann.
Wie einfach es ist. Solange man es richtig macht.
Quer bringt Aufmerksamkeit, längs bringt endgültige Stille.
Wobei es bei mir in beiden Fällen auf das Gleiche hinauslaufen würde. Niemand ist hier, der nach mir sehen würde. Der mich schnell genug finden würde.
Ich habe zwei Optionen. Zwei Möglichkeiten, wie es weitergehen kann.
Weitergehen… oder eben nicht.
Denn auch, wenn mich jetzt gerade absolute Stille umfängt, auch, wenn ich keine Stimmen in meinem Kopf höre… der Schaden ist angerichtet.

Und jetzt?

Autorin / Autor: Katharina Jurka