Lagerhaft statt Kindeswohl?

Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Pläne zur Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems als Armutszeugnis für Menschenrechte in der EU

Die Zahl der Menschen, die vor Verfolgung, Gewalt und Krieg fliehen, hat laut den Vereinten Nationen in diesem Jahr einen neuen Höchststand erreicht. Aktuell hätten rund 110 Millionen Kinder, Frauen und Männer ihre Heimat verlassen, teilte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in Genf mit. Dabei suchen zwei Drittel innerhalb ihrer Heimatländer einen sicheren Ort, um sich und ihre Familien zu schützen. UN-Hochkommissar Grandi erklärte, die Zahlen seien verheerend und es müsse mehr Anstrengungen geben, um Fluchtursachen zu bekämpfen und Flüchtenden beizustehen.

Vor diesem Hintergrund sind viele Menschenrechtsorganisationen, aber auch Vereine und Bürger:innen entsetzt über die vor einer Woche getroffenen Beschlüsse der europäischen Innenminister:innen zum gemeinsamen europäischen Asylsystem. Der Plan: Künftig sollen ankommende Menschen aus als "sicher" definierten Herkunftsländern nach dem Grenzübertritt in die EU unter haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen kommen. Dort soll dann innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden, ob ein:e Antragsteller:in Chancen auf Asyl hat und wenn nicht, soll er oder sie umgehend zurückgeschickt werden. Es gibt wohl auch keine Ausnahmen für Familien mit Kindern. Sieht so der Beistand aus, den UN-Hochkommissar Grandi fordert? Viele Verbände von Pro Asyl bis hin zu terre des hommes sagen "Nein" und fordern eine radikale Umkehr in dieser Frage.

„Wenn Geflüchtete in Grenzverfahren weggesperrt werden, um sie in unsichere Drittstaaten abzuschieben, dann hat das mit Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun“, sagt beispielsweise PRO ASYL-Sprecher Karl Kopp.

"Historischer Dammbruch"

Die Organisationen kritisieren die Entscheidung als das "Ende des europäischen Wertesystems, des Respekts vor der Menschenwürde Geflüchteter sowie den Ausverkauf allgemeingültiger Kinderrechte in der EU".
"Wir sind fassungslos, dass die Bundesregierung die Einigung als »historischen Erfolg« verkauft – die Einigung stellt vielmehr einen historischen Dammbruch für den Schutz geflüchteter Kinder und Jugendlicher in der EU dar«, sagt auch Sophia Eckert, Migrations- und Rechtsexpertin bei terre des hommes.

Zwar habe die Bundesregierung in einer Protokollnotiz vermerken lassen, dass für sie »Ausnahmen vom Grenzverfahren für Minderjährige und ihre Familienangehörigen sehr wichtig bleiben«, aber bei den noch folgenden Verhandlungen, die zwischen Rat, EU-Kommission und Europäischen Parlament stattfinden, werden laut Pro Asyl "erfahrungsgemäß keine großen Sprünge mehr gemacht." Daher sieht die Menschenrechtsorganisation mit Blick auf Grenzverfahren unter Haft oder haftähnlichen Bedingungen bei Kindern und Jugendlichen für diese Verhandlungen kaum Chancen. Auch das europäische Parlament sehe in seiner Position keine Ausnahme von Grenzverfahren für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre vor, so Eckert.

»Jedes Kind in einem Grenzverfahren unter haftähnlichen Bedingungen, ob 7 oder 17 Jahre, stellt einen direkten Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention dar. Die durch die gesetzgebenden Institutionen der EU zur Schau gestellte Ignoranz gegenüber der Kinderrechtskonvention und der darin verbrieften Rechte ist schwer zu ertragen. Die EU hat sich für Lagerhaft anstatt Kindeswohl in der EU entschieden.«

Quellen:

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Autorin / Autor: Redaktion/ Pressemitteilungen - Stand: 15. Juni 2023