Wer sagt, dass Hermine Granger weiß ist?

Psychologin erklärt, wie es zu stereotypen Vorstellungen über literarische Figuren kommt

Wenn einer unserer Lieblingsromane verfilmt wird oder auf die Theaterbühne kommt, sind wir meist enttäuscht über die Auswahl der Schauspieler_innen, die unsere Held_innen verkörpern, weil sie so ganz und gar nicht dem Bild entsprechen, das wir uns von ihnen während der Lektüre gemacht haben und das uns so vertraut ist. Das liegt unter anderem an Stereotypen, wir automatisch beim Lesen bilden. Die Saarbrücker Psychologin Stefanie Miketta untersucht seit mehreren Jahren, wie solche Stereotype entstehen – und warum wir uns die Figuren oft sehr ähnlich vorstellen.

Gut beobachten konnte man das Phänomen, als bei „Harry Potter und das verwunschene Kind“, dem achten Teil der Reihe, einem Theaterstück, Harry Potters Frau und ehemalige Mitschülerin Hermine Granger von einer Schauspielerin mit schwarzer Hautfarbe gespielt wurde. Viele waren offenbar verstört: "War Hermine nicht eindeutig eine Frau mit weißer Hautfarbe?" Mitnichten, wie die Harry-Potter-Erfinderin Joanne K. Rowling bei der anschließenden Debatte mit den Fans erklärte: Nirgends sei im Buch erwähnt, dass die Musterschülerin der Zaubererschule Hogwarts weiß sei.

Warum die Entscheidung, eine der Hauptfiguren in dem Bestseller von einer schwarzen Frau spielen zu lassen, für solche Diskussionen sorgte, kann Stefanie Miketta erklären, auch wenn Harry Potter nicht zu den Texten gehört, die sie für ihre Forschung herangezogen hat. Die Psychologin hat in mehreren Studien untersucht, wie Leser_innen literarischer Texte sich Figuren vorstellen. Sie kommt zu einem verblüffenden Ergebnis: „Die Leser stellen sich die Figuren beim Lesen tatsächlich sehr ähnlich vor, auch wenn sie gar nicht näher im Text beschrieben werden.“

Das liegt vor allem an Stereotypen, die alle Menschen bilden. Weil die Leser_innen von der englischen Mittelschichts-Schülerin ein bestimmtes Bild im Kopf haben, sieht in deren Augen auch die Figur im Buch so aus wie das Stereotyp der englischen Schülerin. Diese hat als Stereotyp demnach weiße Hautfarbe, auch wenn es natürlich Schülerinnen mit schwarzer Hautfarbe in England gibt. „Stereotypenbildung ist ein Mechanismus des Gehirns, um Arbeit und damit Energie und Zeit zu sparen“, erklärt Stefanie Miketta. „Es greift auf automatische Prozesse zurück, um in neuen Situationen fehlende Details mit bekanntem Wissen aufzufüllen. Wenn ich beispielsweise sage: ‚Heute morgen habe ich mir einen Apfel aufgeschnitten‘, dann stellt sich der Zuhörer automatisch vor, dass ich das mit einem Messer getan habe. Ich könnte den Apfel natürlich auch mit einem Skalpell oder einer Glasscherbe geschnitten haben, aber wahrscheinlich ist das nicht.“ Das Gehirn ersetzt also diese fehlende Information automatisch und spart so Energie und Zeit.

Automatische Abläufe haben wohl den Sinn, in unbekannten Situationen schnell Entscheidungen treffen zu können. „Kategorisierten unsere Vorfahren auf diese Weise beispielsweise Menschen, konnten sie schneller entscheiden: Muss ich hier weg? Droht Gefahr?“, erklärt die Psychologin, die am Lehrstuhl für Sozialpsychologie an der Uni Saarbrücken forscht.

In mehreren Einzelstudien hat sie dafür über 1000 Freiwilligen sehr kurze literarische Texte, die zum Teil nur wenige Zeilen lang sind, vorgelegt. Anders, als dies natürlich bei Harry Potter der Fall ist, hat die Psychologin extra darauf geachtet, dass es sich um möglichst unbekannte Texte handelt. So sollte vermieden werden, dass die Proband_innen nicht bereits eine Vorstellung der Figuren im Text haben. „Wir haben den Teilnehmern jeweils zwei Texte vorgelegt und sie nachher gefragt, wie sie sich die Figuren im Text vorstellen.“ Auswählen konnten sie „ihre“ Figuren aus jeweils zwölf Gesichtern, die aus einer Gesichtsdatenbank für psychologische Forschungszwecke stammen. Aus diesen zwölf Gesichtern wählten sie mit sehr hoher Häufigkeit dieselben ein bis zwei Gesichter aus, die die gemeinsame Vorstellung des Literaturcharakters widerspiegelten. Die Leser_innen hatten also mehrheitlich sehr ähnliche Vorstellungen der Figuren, ohne dass diese mit Merkmalen wie Hautfarbe, Augenfarbe oder Alter im Text beschrieben werden.

Stefanie Miketta machte in einer Vorstudie eine weitere verblüffende Feststellung: „Manchmal hatten die Figuren in der Vorstellung der Leser unterschiedliche Augenfarben oder Haarfarben. Aber viele haben sich ähnliche kleine, verrückte Details vorgestellt, bei einer Figur zum Beispiel Flicken auf den Jackettärmeln“, erläutert die Wissenschaftlerin.

Solche Stereotypenbildungen seien wichtig, um vor allem längere Texte zu verstehen. In einem Roman mit vielen Charakteren zum Beispiel sei es effizient, wenn das Gehirn bestimmte Vorstellungen von Personen automatisch anlegt, um so beim flüssigen Lesen des Textes gleich ein Bild vor Augen zu haben und so die verschiedenen Figuren besser voneinander unterscheiden zu können. So wird aus Hermine Granger für viele Leser_innen aus dem westlichen Kulturkreis womöglich eine Frau mit weißer Hautfarbe – ob sie dies nun wollen oder nicht.

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Autorin / Autor: Redaktion/ Pressemitteilung - Stand: 9. Juni 2017